ERSTES KAPITEL

Er hatte es versprochen, doch es war ihm unglaublich lästig. Es verstieß gegen jede Regel und konnte unter Umständen idiotisch enden. Möglicherweise war es das kleine Stück Hundescheiße, auf dem ein Staatsanwalt ausrutscht, um dann auf ewig in träger Mittelmäßigkeit zu dümpeln. Tante Ichen hatte am Telefon mit ihrer nörgeligen Altfrauenstimme erklärt: 

»Mein Junge, der Mann ist wichtig. Der Mann hat Jura studiert, der Mann ist Rechtsanwalt, der Mann ist schließlich wer in Berlin. Er will nichts als ein informelles Gespräch. Mehr nicht.« 

»Tante Ichen: Kein Staatsanwalt führt ein informelles Gespräch ohne ausreichende dienstliche Begründung. Die braucht er erstens für den Chef und zweitens für den eigenen Kopf.« Das klang nicht überzeugend. 

»Wieso denn das?« Ihre Stimme war schrill. »Wieso kannst du dem Mann nicht entgegenkommen? Ist Höflichkeit in deinem Beruf Sünde? Ich habe Staatsanwälte in deinem Alter erlebt, die klauten in der Mittagspause auf dem Wochenmarkt in Kreuzberg Apfel.« »Das war achtzehnhundertsiebzig, Tante Ichen. Was will der Mann von mir? Er muss doch etwas angedeutet haben.« »Hat er nicht. Aber: Er spielt eine Rolle in der Stadt, eine sehr bedeutende Rolle.« »Ja, ja, ich weiß, er ist ein großer Krieger bei den Christlichen.« »Meine Güte, deine Sprache! Ja, und wenn schon. Er ist bei den Christlichen und heißt Dr. Walter Sirtel. Er ist so ein Häuptling Silberlocke, weißt du, sehr angenehm und garantiert diskret. Vielleicht kann er dir ja helfen. Er wird einen grauen Anzug tragen und im Knopfloch …« »Inwiefern sollte er mir helfen können?« »Was weiß ich! Vielleicht hat er Einfluss auf die Staatsanwaltschaft. Im Knopfloch steckt jedenfalls eine rote Nelke, hat er gesagt.« »Wenn er einen Angeklagten vertritt, gegen den ich ermittle, dann kann ich nur sagen …« »Jungchen, nun sei doch nicht so widerborstig. Er hat mir versichert, es geht weder um eine laufende Sache, die du bearbeitest, noch um einen Mandanten von ihm.« In vertraulichem Ton hatte sie hinzugefügt: 

»Der verteidigt keine Hühnerdiebe, der spielt in der höchsten Liga. Leise, aber machtvoll im Hintergrund. Ich habe ihm jedenfalls gesagt: Du kommst.« Mann hatte seufzend entschieden: »Gut, ich treffe ihn!« Er grinste vor sich hin. Es machte wenig Sinn, sich Tante Ichen zu widersetzen, weil sie eine Verweigerung nicht zuließ, sie akzeptierte kein Nein und sie hätte zäh und hartnäckig so lange auf ihn eingetrommelt, bis er sich nicht mehr hätte wehren können. Immerhin war es beruhigend zu wissen, dass sie nichts tun würde, was ihm schaden könnte. Denn er war Familie und Familie war für sie heilig. Er würde sich diesen Sirtel also anhören. Aber er schwor sich: Sobald der alte Knabe gefährliches Terrain berührt, trete ich ihm vor das Schienbein und verschwinde. Mann bestellte sich ein Taxi. Das Treffen war für zwanzig Uhr angesetzt. Bis dahin blieb noch Zeit; er würde sich am Adenauerplatz absetzen lassen, von dort langsam zum Ku’damm schlendern und dabei über den Rotzjungen Kemal nachdenken, der es mit seinen erst siebzehn Jahren fertig gebracht hatte, in einer einzigen Nacht achtunddreißig Pkws in Kreuzberg mit einem Hammer aufzubrechen, nichts zu stehlen und anschließend zu behaupten, er sei telefonisch dazu gezwungen worden. Gefragt, wer ihn denn gezwungen habe, hatte er geantwortet, kriminelle Kreise im Viertel, schwer auszumachen, nicht zu identifizieren. Aber ohne sie sei letztlich jeder aufgeschmissen, er würde um die Ecke gebracht werden, wenn er das Maul aufmache. Mann ließ die Stadt an sich vorbeigleiten. Der Tag war hart gewesen, er fühlte sich erschöpft. 

Der Fahrer hielt am Ende einer Taxireihe in der Lewishamstraße, nahm den Geldschein, kramte Wechselgeld aus einer Ledertasche und reichte es nach hinten. »Da vorne ist die Hölle los«, murmelte er dabei, als wollte er seufzen, sein Tag sei nun gelaufen. Mann hatte ihm nicht zugehört, er nickte nur: »Danke auch!«, und stieg aus. Er war mittelgroß und wirkte kompakt in seinem abgetragenen langen Trenchcoat. Sein ein wenig längliches, blasses Gesicht unter den kurzen dunkelbraunen Haaren war nichts sagend. Unter dem Mantel trug er einen schwarzen Rollkragenpullover zu blauen Jeans und mittelbraunen englischen Schuhen mit Lochmuster. Mann fiel durch nichts auf und er wusste das. Resolut schob er sich durch eine Gruppe Bustouristen, die sich laut schnatternd im breitesten Sächsisch darüber stritten, wohin sie zum Abendessen gehen sollten. Wahrscheinlich wollte sich Kemal nur beweisen, auf sich aufmerksam machen. Da gab es ein strohblondes, nuttig wirkendes Mädchen namens Uschi, von dem Kemal dauernd sprach. Allerdings wollte Uschi Kemal nicht, sie hatte lässig geurteilt: »Der Junge ist nicht dicht!« Es waren nur wenige Schritte bis zum Kurfürstendamm. Filmreif schossen plötzlich zwei Streifenwagen mit Sirene und Blaulicht an Mann vorbei, bogen ein auf Berlins Prachtstraße und gerieten in massive Schwierigkeiten, weil die beiden Spuren stadtauswärts vollkommen mit Fahrzeugen verstopft waren. 

Die beiden Streifenwagen stoppten mit hoch quietschenden Reifen, wandten sich erstaunlich synchron nach links und setzten ihre Fahrt brutal auf dem Mittelstreifen fort. Irgendetwas war dort vorne, richtig, der Taxifahrer hatte gemurmelt, dort sei die Hölle los. Mann nahm nun eine Flut von Blaulichtern wahr. Die Fußgänger auf der anderen Seite des Ku’damms begannen wie aufgescheucht auf die Lichter zuzulaufen und mit Geheul näherten sich von hinten mehrere große Feuerwehrwagen. Mann stand sekundenlang isoliert, weil die Menschen um ihn herum ebenfalls zu rennen begannen und ihn beiseite stießen. Er schaute auf die Uhr. Es war neunzehn Uhr fünfundfünfzig. Nun spurtete auch er los. Er war schneller als die meisten Neugierigen vor ihm, deshalb wich er nach links aus und rannte neben Autos her über die Fahrbahn. Er musste husten, befreite seine Luftröhre, spuckte aus, während er Wagen und Menschen umkreiste, die ihm im Weg standen. Katharina kam ihm in den Sinn, die vor einigen Tagen etwas bissig geäußert hatte, er müsse sich dringend in Form bringen, er würde ja kaum noch die drei Stockwerke bis zu ihrer Wohnung schaffen. Wie hieß das Restaurant nochmal, wo er verabredet war? Franco’s? Nein: Francucci’s! Das war es. 

Er lief jetzt auf der rechten Straßenseite, weil sich dort weniger Leute befanden. Plötzlich stauten sich die Menschen vor ihm. Uniformierte Polizisten hatten den Straßenabschnitt abgeriegelt. Einige Männer standen steif und drohend, andere waren noch damit beschäftigt, Eisenstäbe mit runden, schweren Füßen aufzustellen, die sie mit einem rotweiß gestreiften Plastikband verknüpften: Polizei / Tatort. Mann drängte sich rabiat nach vorne. Neben ihm sagte eine Frau leicht hysterisch: »Da ist eine Bombe explodiert! Jede Menge Tote, hat Gitta gesagt.« »Lassen Sie mich bitte durch«, bat Mann höflich. »Ich habe dort zu tun.« »Det sagense alle!«, knurrte ein Zuschauer, ließ ihn aber vorbei. Er erreichte eines der rot-weißen Plastikbänder und stieg darüber hinweg. Jemand links meckerte: »He, keine Ausnahme, Männeken. Was wollen Sie denn?« Mann zückte seinen Dienstausweis: »Staatsanwaltschaft.« »Ja denn«, grummelte der Uniformierte enttäuscht. Mann begann erneut zu laufen, immer eng an den Häusern entlang. Er hatte das Gefühl, sich in einem Chaos zu bewegen, ohne dass etwas von Chaos zu sehen war. Endlich erreichte er den Lehniner Platz. Geradeaus vor ihm drehten sich unzählige blaue Lichter. Ein Mann rief wütend: »Verbandszeug, du Arschloch, Verbandszeug!« Mann registrierte weißen, mehligen Staub in der Luft. Er musste erneut husten. Aus dem Dunst vor ihm tauchte eine Frau auf. Sie kam nicht direkt auf ihn zu, sondern irrte mit unnatürlichen Trippelschritten zwischen den geparkten Autos herum. Sie erweckte den Eindruck eines hilflosen Menschen in einem Labyrinth. Auf einmal hielt sie inne, stützte sich mit der Linken auf den Kofferraum eines Autos, beugte sich vor und übergab sich. »Hallo!« Mann fühlte sich unsicher und fasste sie leicht an die Schulter. »Was ist los?« Sie hob den Kopf, starrte ihn an und sagte kein Wort. Ihre Augen waren weit aufgerissen und grau. Sie war eine hübsche Frau, Mitte zwanzig und über und über mit grauem Staub bedeckt. Sie keuchte, als habe sie eine ungeheure Anstrengung hinter sich, und ihr Mund zuckte. Dann übergab sie sich auf Manns Schuhe. »Nicht schlimm«, murmelte Mann hilflos, ließ sie los und setzte sich wieder in Bewegung. Nun sah er die Leuchtschrift: Francucci’s. Die Buchstabenleiste war abgeknickt und wirkte wie eine müde Flagge. »Was ist passiert?«, fragte Mann einen Sanitäter, der erschöpft an einem Fahrzeug lehnte. Er trug einen weißen Overall und auf seinem Bauch war ein großer Blutfleck. In der Hand hielt er eine Flasche Bier. »Wohl eine Bombe«, antwortete er geistesabwesend. »Terroristen.« Eine hohe, heisere Männerstimme schrie: »Die Einsatzgruppe hierher nach draußen!« »Dauernd schreit der«, sagte der Sanitäter verächtlich. »Seit ich hier bin, schreit der rum!« »Wie viele Verletzte gibt es denn?«, fragte Mann sachlich. Seine Stimme kam ihm fremd vor. »Verletzte? Tote! Zwanzig, was weiß ich«, antwortete der Sanitäter asthmatisch. Die Explosion hatte das Restaurant nach draußen auf die Straße geblasen, als habe das Haus wild ausgespuckt. Wo vorher Fenster und Türen gewesen waren, befanden sich nun riesige Löcher. 

Mann wandte sich dem Gebäude zu und stolperte über ein Gewirr von Aluminiumleisten und glatten Flächen. Auf einer dieser Flächen waren die Reste eines Werbeplakats zu erkennen. Bohlen – der Zauberer, las er und erinnerte sich, dass hier ein Zeitungskiosk und eine Bushaltestelle gestanden hatten. Wieder schrie der Mann mit der hohen Stimme: »Keiner geht da rein! Wirklich keiner!« Mann bewegte sich auf das zerstörte Haus zu und spürte, dass seine Schritte schwer wurden. Er schlängelte sich zwischen zwei Notarztwagen hindurch. Aus den riesigen Löchern in der Fassade kamen Leute; langsam, mit grauen Gesichtern und weißen Haaren kletterten sie über die Schuttberge. Einer von ihnen sagte ohne Betonung: »So eine Kacke! Ich wollte morgen nach Teneriffa.« Nun fiel Mann auf, dass es unwirklich still war. Er konnte sekundenlang kein lautes Geräusch ausmachen. Auch die Sirenen der Einsatzfahrzeu ge waren verstummt. Links von ihm sammelten sich Männer, erst waren es drei, dann sechs, dann sieben. Sie trugen alle die üblichen weißen Überanzüge der Kriminaltechniker. Ein kleiner, runder älterer Mann trat zu den Weißgekleideten und fragte sanft in einem Seelsorgerton: »Hat jemand einen Vorschlag, wie wir verfahren sollen?« Das war wohl derselbe Mann, der vorher geschrien hatte. »Macht doch keinen Sinn, Erich«, murmelte einer. »Gleich kommen das LKA und das BKA und alles, was wir bis dahin getan haben, ist für den Arsch.« Der kleine Mann erwiderte scharf: »Das ist mir scheißegal. Im Moment ist es unser Tatort. Alles, was jetzt versaut wird, geht auf unser Konto. Also?« 

»Eine enge Gitterzeichnung«, schlug eine Bassstimme vor. »Wir machen eine genaue Bestandsaufnahme. Das war es dann. Hat jemand eine Zigarette?« »Das ist gut«, nickte der kleine Mann. Erstaunlich schnell und elegant drehte er sich um, sah Mann scharf an und fragte: »Wohl ein Bewohner des Hauses?« »Nein«, entgegnete Mann. »Staatsanwaltschaft, Jugendkriminalität. Ich bin zufällig hier.« »Zufälle gibt es nicht.« Der kleine Mann lächelte kurz. »Wollen Sie uns helfen?« »Natürlich«, nickte Mann. »Wer sind Sie?« »Ziemann, Vorname Erich, Kriminalrat. Bereitschaft der Kripo und Mordkommission. Das sind meine Jungs, die meisten sind Spurenspezialisten.« Er wandte sich wieder an seine Männer. »Geht langsam durch, Abstand ein Meter, nicht mehr. Jedes Fundstück registrieren, einzeichnen, foto grafieren. Sind Sie leichenscheu?«, fragte er Mann. Der schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Leichenteilen?« Ziemanns Augen waren von einem erstaunlich hellen Braun und wirkten wie kleine Lampen in dem ruhigen, runden, freundlichen Gesicht. »Das wird auch gehen«, meinte Mann. »Was weiß man bis jetzt?« »Jemand hat versucht, den israelischen Botschafter und seine Familie in die Luft zu jagen.« Ziemann starrte auf die Ruine. »Wir haben bisher dreizehn Tote ausmachen können, zwei davon Kinder. Kann sein, dass es noch zwei, drei mehr werden, es gibt Schwerstverletzte. Dem Botschafter und seiner Familie ist nichts passiert. Sie fliegen ihn gerade aus.« Übel gelaunt musterte er das Pflaster, auf dem er stand. »Ich muss jetzt schnell sein, weil ich alle möglichen, unheimlich wichtigen Leute nicht lange davon werde abhalten können, da reinzugehen. Der Tatort wird bald komplett versaut sein. Bisher haben wir nur die Verletzten geborgen und abtransportiert. Die Toten liegen noch an Ort und Stelle. Ich muss wissen, wo genau die Bombe explodiert ist und wo genau jeder Restaurantbesucher saß. Hören Sie mir ei gentlich zu?« »Natürlich.« 

Mann blickte in Ziemanns Augen. Er erkannte darin Erschöpfung, aber auch so etwas wie eine flammende Wut. »Egal, was passiert, lassen Sie sich nicht ablenken, junger Mann. Da, wo das größte Loch in der Hauswand ist, auf der Ecke, war der Eingang des italienischen Restaurants. Geradeaus standen fünf Stehtische, dahinter waren der Tresen und das kalte Büfett, ich mein, Antipasti und so ’n Zeug. Rechts davon, hinter einem breiten, türlosen Durchgang ist das eigentliche Lokal. Der israelische Botschafter saß im Restaurantbereich hinten rechts an einer langen Tafel, zusammen mit seiner Frau, seinen zwei Kindern und vier Freunden.« »Gibt es unter den Verletzten oder Toten einen älteren Herrn, der eine rote Nelke im Knopfloch trug?« Die Augen des kleinen Mannes verengten sich zu Schlitzen. Er fasste Mann hart am Arm und zog ihn auf das halb zerstörte Gebäude zu. »Kommen Sie.« Behände kletterte der Kriminalrat über einen Haufen Steine, umging zerborstene Teile von Tischen und Stühlen, wandte sich dann zwei Schritte scharf nach rechts und wies mit dem Zeigefinger nach unten: »Meinen Sie den?« Mann starrte verkrampft auf den Toten: »Ich weiß nicht, ob ich den meine.« »Aber da liegt eine Nelke, da auf dem Bauch neben der Gürtelschnalle.« Ziemann wirkte plötzlich aggressiv. »Also, ist er es oder ist er es nicht?« »Aber – er hat ja keinen Kopf mehr«, stotterte Mann. »Ich habe ihn nie persönlich getroffen, ich kenne sein Bild nur aus der Zeitung.« »Sie waren hier verabredet?« »Ja, er wollte eine Auskunft, aber ich weiß nicht, worum es gehen sollte. 

Meine Tante … meine Tante hat das Treffen arrangiert. Das ist dieser Sirtel, Dr. Walter Sirtel.« »Ach du lieber Gott, auch das noch«, stöhnte Ziemann mit einem Blick in den Himmel. »Ausgerechnet der.« Er wedelte mit den Händen. »Ist jetzt aber wurscht. Also, Sie fertigen eine Skizze des Grundrisses der Räumlichkeiten hier an und markieren darauf alle Stellen, wo Tote beziehungsweise Teile von Toten liegen. Anschließend nehmen Sie sich den Restaurantbesitzer vor, der soll versuchen, sich zu erinnern, wo wer saß, wie viele Personen an den Stehtischen standen, wie viele wo hinten im Restaurant saßen. Auch das zeichnen Sie ein. Wenn Sie einer rausschmeißen will, dann schicken Sie ihn zu mir. Und verändern Sie nichts, Mann! Sonst reiße ich Ihnen die Eier ab!« »Klar«, nickte Mann. »Dann brauche ich Papier.« Er ließ Ziemann zurück, kletterte über die Schuttberge wieder nach draußen und steuerte eine uniformierte Polizistin an. »Haben Sie irgendwo einen Block oder so was, ich brauche was zum Zeichnen?« »Habe ich«, antwortete die Uniformierte und lief davon. Mann musterte das Gebäude, ging einige Schritte zurück, um sein Blickfeld zu vergrößern. Das Haus hatte sechs Geschosse und war zum Lehniner Platz in einem Halbrund gehalten. Vor das Halbrund hatte man einen Flachbau gesetzt, der das Francucci’s und einen Wienerwald beherbergt hatte. Über den Lokalen waren zwei Mal sechs Balkone gewesen, mindestens acht dieser Balkone waren durch die Explosion von der Hausfassade abgesägt worden und auf den Flachbau gestürzt. Steinbrocken, Glas-und Holzteile hatten in den Pulks der geparkten Pkws bis in die Nebenstraßen hinein Verwüstungen angerichtet. »Hier ist ein Block mit kariertem Papier«, sagte die Polizistin etwas atemlos, weil sie gerannt war. »Danke Ihnen«, murmelte Mann, nahm den Block und ging zurück in das zerstörte Lokal. Er bewegte sich vorsichtig bis in die vermutliche Mitte des Raumes, in dem sich der Tresen, das Büfett und die fünf Stehtische befunden hatten. Er skizzierte den Grundriss und ärgerte sich, weil ihm kein gerader Strich gelang. Seine Hände zitterten, waren nicht unter Kontrolle zu bringen. Um ihn herum bewegten sich die Spurenleute unendlich langsam. Wie Gespenster. Sie liefen gebückt oder in der Hocke, hielten in der einen Hand ein Klemmbrett und drehten mit der anderen behutsam Steine um oder zersplitterte Holzteile, Geschirr oder Töpfe und Pfannen, notierten etwas. Ein Mann hatte drei Kameras vor dem Bauch hängen, eine davon mit einem weit herausragenden Objektiv. Im Durchgang zum eigentlichen Restaurantteil hockte ein anderer Mann in einem metertiefen Explosionsloch und mühte sich ab, Erd-und Mörtelreste in Plastikbeutel zu füllen. Mann überlegte, dass die Proben vermutlich Aufschluss über die Art des Sprengstoffes geben sollten. Es war jetzt 20.11 Uhr. Eine junge Stimme rief plötzlich: »Hier liegt eine Hand.« »Liegen lassen«, zischte Mann reflexartig. Augenblicklich fand er seine Bemerkung und seinen Ton unangemessen und setzte hinzu: »Euer Chef hat gedroht, er reißt mir die Eier ab, wenn ich etwas bewege.« Der Mann mit der jungen Stimme lächelte und bemerkte: »Die Beutel für Leichenteile liegen im Bereitschaftswagen.« »Gleich«, meinte Mann. »Erst mal einen Überblick bekommen. Was ist das für eine Hand?« 

»Weiblich. Mattrosa lackierte Nägel, glatt, jung, gepflegt, Ehering. Ach so, es ist eine rechte Hand.« »Die lebt doch!«, stieß jemand hervor. »Ich habe die Frau auf einer Trage liegen sehen. Sie hat noch Glück gehabt.« Mann zeichnete die Hand ein, machte Notizen und drehte sich langsam einmal um sich selbst. Von seiner derzeitigen Position aus konnte er sechs Leichen erkennen, grauenhaft zerrissen. Die siebte Leiche, Walter Sirtel, sah er von hier aus nicht. »Ich sehe sechs«, sagte er laut. »Ich weiß, dass schräg rechts von mir eine siebte männliche Leiche liegt. Ziemann meinte, es sind dreizehn. Zwei Kinder. Weiß jemand von euch, wo …« »Wenn Sie zwei Schritte geradeaus machen und dann hinter die Thekentrümmer schauen, da sind die Kinder. Das wären dann neun. Die anderen vier liegen im Grenzbereich zu den hinteren Räumlichkeiten. Ich denke, die Explosion hat sie dahin geblasen. Schräg links von Ihnen.« »Danke«, nickte Mann. Für Sekunden schien ihm die Szenerie vollkommen ohne Laut zu sein, als habe jemand eine Minute stillen Gedenkens verordnet. Schabende, schleifende Geräusche kämpften sich in sein Bewusstsein wie ein sich langsam hebender Vorhang. Irgendwo hämmerte jemand, ein Autofahrer hupte wild, weit entfernt plärrte ein Kind. Die Hände der Spurenleute drehten Steine, das erzeugte sanft reibende Laute. Menschen unterhielten sich. Dann war es, als würde ein zweiter Vorhang, der zu den Straßen und zum Platz, hochgezogen. Autotüren wurden zugeschlagen, jemand stellte ein Signalhorn an und ließ beim Start die Reifen quietschen. Eine Frau befahl hart: »Niemand geht da rein.« »Aber ich bin von der Polizeidirektion!«, protestierte ein Mann. »Das ist mir scheißegal«, stellte die Frau fest. Einer der Spurenleute brummelte: »Das Arschloch hat sich bestimmt noch schnell eine rote Krawatte umgehängt, um im Fernsehen besser rüberzukommen.« Ich muss mir die Kinder ansehen, dachte Mann verbissen. Und zwar sofort, ich weiß nicht, wie lange ich das hier durchhalte. Vorsichtig passierte er einen hohen Haufen zersplittertes Holz. Seltsamerweise wirkten die Kinder, als würden sie schlafen. Kein Blut, nur unglaublich blasse, durchscheinende Haut, als habe die Detonation den Kleinen sämtliches Blut entzogen. Erst als er sich zwang, genau hinzusehen, bemerkte Mann, dass ihre Köpfe verformt waren. Er zeichnete ihre Positionen ein. Es waren zwei Jungen, einer von ihnen hatte langes hellblondes Haar wie ein Engel. Der andere, der ältere, war braunhaarig und trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Hells Darling. Sie mochten acht und zehn Jahre alt geworden sein. 

Mann hatte das Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. Er bewegte sich ein wenig, das Gefühl verflog, so einfach war das Ausweichen. Das mahlende Geräusch seiner Schuhsohlen hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt. Er achtete peinlich darauf, wohin er den nächsten Fuß setzte, damit er auf nichts trat, was wichtig sein konnte. Aber was war hier wichtig, was unwichtig? Sein Handy meldete sich. Er drückte einen Knopf, sagte barsch: »Nicht jetzt!«, und steckte es wieder in die Jackentasche. Doch nach wenigen Sekunden meldete es sich wieder. Er zog es erneut aus der Tasche. »Katharina hier. Wieso bist du so unhöflich?« Das klang gedehnt, angriffslustig. »Ich habe zu tun«, entgegnete er kurz angebunden. »Ich wollte dir nur erzählen, dass im Fernsehen ununterbrochen über eine Sache berichtet wird, die am Ku’damm passiert ist. Jemand hat den israelischen Botschafter in die Luft gejagt.« »Das stimmt nicht«, berichtigte Mann. »Aber ich sage dir, das ist im Fernsehen!« Es klang wie ein Tadel. »Ich bin am Ku’damm«, erklärte Mann geduldig. »Und jetzt stör mich bitte nicht mehr.« Er drückte auf einen Knopf und schaltete dann das Gerät ab. Er wollte sich dem Restaurantteil zuwenden, da bemerkte er links von sich eine alte Frau. Sie wies äußerlich keinerlei Verletzung auf, kein Blut. Sie lag gekrümmt wie ein Fötus, beide Hände vor dem Gesicht. Merkwürdigerweise trug sie eine geblümte Schürze über einem alten, verblichenen blauen Rock. Dazu etwas, das wie ein dunkles T-Shirt aussah. Sicher eine Hilfe, die in der Küche Abfall wegräumte oder Geschirr spülte, dachte Mann. Zubrot für eine arme Rentnerin. »Hat sich jemand von euch die alte Frau hier angeguckt? Sie passt irgendwie nicht in dieses Restaurant.« Ein Mann erklärte gemütlich: »Sie war auch nicht drin. Sie ist mit einem der Balkone von oben in die Scheiße gesegelt. Neben ihr liegt doch auch der Liegestuhl.« Eine Bassstimme meldete ohne jede Aufgeregtheit: »Wir haben einen vierzehnten Toten. Hier!« Mann drehte sich um und sah einen der Spurenleute, einen schmalen, intellektuell wirkenden Mann, auf einem Haufen aus Backsteinbrocken und Holzteilen hocken. Er starrte zwischen seine angewinkelten Beinen. »Mann oder Frau?«, wollte Mann wissen. »Weiß ich noch nicht. Moment mal. Das ist ein Arm. Ziemlich behaart, also ein Mann. Dort ist ein Schuh. Ein Männerschuh. Schorsch, tu mir einen Gefallen und hilf mir. Nimm mal da oben die Holzteile weg und das Glas. 

Und das ganze Zeug hier, was aus der Theke geflogen ist. Antipasti!« Er sprach das letzte Wort scharf aus wie eine Beleidigung. »So, danke. Und jetzt vorsichtig weiter.« Ein anderer murmelte: »Lebt der vielleicht noch?« »Unmöglich«, keuchte der Bass. »Der liegt unter einer Tonne Gewicht. Stemm mal den Balken da hoch und dieses Betonteil, dann kann ich das Türblatt rausziehen und wir kommen dran. Ja so, so ist es gut.« Draußen auf der Straße schrillte die Frau mit der harten Stimme: »Und wenn Sie der Bundeskanzler sind: Sie gehen da nicht rein, ehe nicht unsere Spurenleute ihre Arbeit gemacht haben. Und noch was: Die Fernsehteams da – weg da! Verdammte Hacke! Das hier ist keine Fernsehshow.« »Heilige Scheiße«, stöhnte der Bass. »Das ist der Vater. Der Vater der beiden Kinder.« Mann hielt fest, wo der Vater lag, und wandte sich dann wieder in die andere Richtung. Gleich hinter der alten Frau lag ein schwerer Tisch auf dem Rücken und bedeckte zur Hälfte die Leiche einer etwa vierzigjährigen Frau. Ihre Augen standen weit auf. Er skizzierte die Position der beiden Toten. Nun lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den Bereich hinter der Theke und die anschließende Küche. Es hatte zwei Schwingtüren und eine große Durchreiche gegeben, von deren Konturen kaum noch etwas feststellbar war. Mann konnte erstaunlich weit in das Gebäude hineinsehen, denn in der Wand am Ende der Küche waren ebenfalls riesige Löcher, und er begriff, dass er in das zweite Restaurant, den Wienerwald, blickte. Inzwischen war es 20.31 Uhr. Irgendwann schloss er seine Arbeit ab und jemand reichte ihm einen Plastikbecher mit Kaffee. Mann studierte seine Skizzen und Notizen. Tatsächlich hatte er Fundstellen von vierzehn Toten, beziehungsweise deren Überresten, dokumentiert. »Glaubst du, dass du alles hast?«, fragte Ziemann plötzlich neben ihm. Mann nickte. »Allerdings war ich noch nicht auf dem Lokus.« Das Du des Kriminalisten tat ihm gut, es schaffte ein wenig Vertrautheit. »Okay. Dann mach noch die Klos, anschließend werde ich den Laden freigeben, die anderen Kollegen sind auch so weit.« 

Sein Gesicht war grau, er wirkte zu Tode erschöpft. »Dann geh ich mal auf den Pott«, seufzte Mann. »Bitte entschuldige mich bei meinem Chef, dass ich morgen nicht zum Dienst komme.« »Wer ist denn das?« »Oberstaatsanwalt Manfred Kolthoff.« »Sieh an, sieh an, ein Mann wie Samt und Seide.« Ziemann grinste müde. Mann sparte sich einen Kommentar, weil er nicht wusste, wie Ziemann die Bemerkung meinte. In diesem Moment entstand hinter ihnen Unruhe. Audis, Mercedes und BMWs, schwarze Autos mit stark abgedunkelten Scheiben und Blaulicht auf dem Dach, stoppten vor den Trümmern. Aus jedem der sechs Wagen stiegen vier Männer und liefen ohne zu zögern in die Ruine. Nur einer, ein schlanker kleiner, zäh wirkender Mann mit starren dunklen Augen, gesellte sich zu Ziemann und Mann und sagte leutselig: »Sie sind der Leitende hier? Kripo? Gut. Mannsfeld heiße ich, BMI, wir übernehmen.« »Ich habe noch eine Menge abzuklären«, widersprach Ziemann schnell und hart. »Das haben wir doch alle«, erwiderte Mannsfeld freundlich. »Sie sind draußen, wir sind drin. So einfach ist das. Holen Sie Ihre Leute da raus. Dalli! Klar?« »Wieso treffe ich ständig auf Arschlöcher?«, klagte Ziemann seidenweich. Mann sog scharf die Luft ein und starrte in das Gesicht des Mannes, den Ziemann beleidigt hatte. Der entledigte sich des Problems, indem er freundlich nickte: »Wir sind doch alle Arschlöcher, gelle? Das BMI und das BKA sind jetzt hier, der Generalbundesanwalt kommt gleich. Ein Paar Kumpel vom FBI schauen auch schon um die Ecke. Sie, mein Bester, können heimgehen.« »Geh den Lokus inspizieren«, wandte sich Ziemann an Mann. »Das werden Sie nicht tun!«, die Stimme Mannsfelds war plötzlich beißend. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen!«, bemerkte Mann und spürte Schmetterlinge im Bauch, eine nahezu heilige Aufregung. Er ging zurück in das zerstörte Gebäude. Hinten im Restaurant befand sich eine Tür, die von der Explosion aus den Angeln gehoben worden war. Dahinter ging es rechts durch einen kleinen Flur in die Herrentoilette. Sie war leer. Über den Flur zurück in die Damentoilette. 

Auch sie schien leer, aber eine der Türen zu den Kabinen ließ sich nicht öffnen, etwas war im Wege. Mann rannte zurück auf die Straße und winkte einem Uniformierten. »Ich brauche jemanden mit einem schweren Hammer oder so was!« »Kommt!«, versprach der Polizist. Dann war dieser Mannsfeld wieder neben ihm und sagte betulich, als seien sie auf einem Betriebsausflug: »Lassen Sie uns reden. Das Spiel läuft nun mal so. Ich habe die Regeln nicht aufgestellt.« Mann spürte die Wut wie einen harten Ball im Bauch. »Ich weiß nicht, ob Sie ein großer Meister sind, welchen Gürtel Sie tragen und ob Sie nachts auf einer Wumme schlafen. Aber ich weiß, dass alle Leute hier seit mehr als einer Stunde wie die Geisteskranken herumwirbeln. Verletzte bergen, Tatortbefund, Spurensicherung. Und Sie kommen daher und erklären: Sie sind draußen, wir sind drin! Halten Sie sich für besser als Ziemann?« »Wir sind zuständig. Das ist das Einzige, was zählt.« »Im Moment bin ich zuständig für jemanden auf dem Damenklo, der vielleicht schon tot ist«, sagte Mann resolut. »Und jetzt bewegen Sie Ihren Arsch gefälligst woandershin und halten Sie mich nicht länger auf!« Verwundert registrierte er: So habe ich noch nie im Leben mit jemandem geredet. Fast beglückt vernahm er, dass Mannsfeld 

»Blöder Hammel« murmelte. Ein paar Sekunden später näherte sich ein blau uniformierter Jüngling vom Technischen Hilfswerk mit einem schweren Vorschlaghammer und einem langen Eisenhaken. Während Mann mit dem THW-Mitarbeiter im Schlepptau wieder auf das Restaurant zustiefelte, beobachtete er aus den Augenwinkeln, dass ein wichtig aussehender Mann mit hochrotem Kopf auf Ziemann einredete. Und er bemerkte auch, dass sich Ziemanns Leute eindeutig verschüchtert auf dem Gehweg sammelten und deprimiert wirkten. Mann ging voraus bis in die Damentoilette. »Die Tür da ist es.« Der Junge vom THW keuchte: »Wieso soll ich die Tür einschlagen? Was ist, wenn dahinter jemand liegt? Verletzt, meine ich.« »Das ist möglich«, nickte Mann. »Aber wir müssen da rein.« Der junge Mann stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Tür. »Stellen Sie Ihre Füße gegen meine Füße, dann kann ich nicht wegrutschen. Ja, so ist es gut.« Es knackte, etwas brach, dann folgte ein scharf schleifendes Geräusch, die Tür öffnete sich, erst zwanzig Zentimeter, dann dreißig. »Noch ein kleines Stückchen«, sagte Mann ruhig. Er fragte sich, woher er die Gelassenheit nahm. »So, jetzt reicht es. Dann lassen Sie mich mal.« Er steckte nur den Kopf durch den Türspalt. Das Erste, was er sah, war ein Gesicht, ein Frauengesicht, gläsern, umrahmt von kastanienrot gefärbtem Haar. Die Frau mochte etwa dreißig Jahre alt sein und sie hielt die Augen weit und starr geöffnet. Sie trug ein beigefarbenes Leinenkleid, es war voller Blut. Mann erkannte keine Wunde, aber auf dem Bauch der Frau schien das Blut dick geronnen. Ihre Lippen bewegten sich zitternd. »Hallo«, sagte Mann leise. Sie wollte etwas antworten, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Mann zog den Kopf zurück und wurde hektisch: 

»Die Frau lebt. Holen Sie Sanitäter mit einer Trage. Ein Notarzt muss auch her. Dalli, Junge, dalli.« Dann steckte er den Kopf wieder durch den Türspalt. »Wenn Sie sich bewegen können, dann nehmen Sie Ihre Beine da weg, bitte. Ich komme nicht an Sie heran.« Hinter ihm hörte er plötzlich eine Männerstimme: »Gresko, vom Stab des Innenministers. Wir übernehmen. Sie können sich zurückziehen.« Die Augenlider der Frau flatterten. Sie schnappte nach Luft, es gab ein quälendes Geräusch. Mann drückte die Tür ein paar Zentimeter weiter auf und schob dadurch den Körper der Frau auf das Klobecken zu. »Ich wiederhole mich nicht gerne«, sagte Gresko. »Sind Sie verletzt?«, fragte Mann in das Frauengesicht. Sie sagte nichts und rührte sich nicht mehr. Es gab ein Gerangel hinter Mann, dann meinte jemand gelassen: »Ich bin Arzt, darf ich mal?« Mann nickte: »Klar doch«, und machte Platz. Nun steckte der Arzt den Kopf durch den Türspalt und fragte überlaut und deutlich: »Können Sie mich verstehen? Wissen Sie, wie Sie heißen?« Er zog den Kopf zurück. »Geht so nicht. Wahrscheinlich Schockzustand.« Der Mann vom Stab des Innenministers bellte: »Das ist mein Tatort, ich habe hier das Sagen!« Mann blaffte zurück: »Sie haben zunächst mal die Schnauze zu halten. Hier liegt eine Frau, die stirbt, Sie Arschloch!« Im gleichen Atemzug dachte er: Das ist mein Ende, das ist mein unvermeidliches berufliches Ende. Aber er fühlte sich großartig. Der junge Mann vom Technischen Hilfswerk war aufgeregt. »Ich kann die Tür an den Angeln rausbrechen. Mit dem Eisen hier. Nur muss einer die Tür festhalten, dass sie nicht auf die Frau fällt.« »Gute Idee«, nickte der Arzt. »Los! Ich halte die Tür.« Der Junge setzte die Brechstange in den schmalen Spalt und die Tür trennte sich ohne Widerstand von ihren Angeln. Das Türblatt schwankte, dann gelang es dem Jungen und dem Arzt, es aus der Öffnung zu heben. »Ihr braucht mich nicht mehr«, entschied Mann. 

Doch Gresko hielt ihn am Arm fest und fragte aggressiv: »Wer sind Sie eigentlich?« Auch er war noch jung, etwa fünfundzwanzig, und wirkte sehr verkrampft. »Mein Name ist Jochen Mann. Ich bin Staatsanwalt, Jugendkriminalität. Ich bin nur zufällig hier. Ich helfe.« Mann schüttelte Greskos Arm ab und ging zurück auf die Straße, suchte Ziemann und fand ihn mit grauem Gesicht und einem großen Glas Kognak in einem Pkw sitzend. »Wo ist denn der Inhaber des Restaurants? Und wie heißt er?« »Ach, Junge, lass gut sein. Wir sind draußen. Guck dir meinen Tatort an. Sie rennen rum und trampeln alles kaputt. Meine Frau nennt diese Leute die aufgeblasenen Kugelfische, sie hat Recht.« »Ich schmeiß nicht einfach alles hin«, erwiderte Mann aufgebracht. »Ich habe mir hier in sechs Minuten mehr Feinde gemacht als vorher in sechs Jahren bei meinem Verein.« Unkontrolliert brach er in Gelächter aus. »Also, wo ist der Kerl? Oder haben ihn die anderen schon?« »Nein, sie wissen noch gar nicht, dass der hier ist. Der Typ nennt sich Giovanni und er sitzt in einem Rettungsfahrzeug des DRK. Keine Ahnung, wie er vollständig heißt. In dem Fahrzeug hinter uns.« »Dann gehe ich das jetzt an«, erklärte Mann entschlossen. »Wer kann hinter dieser Schweinerei stecken?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Ziemann müde, trank den Kognak aus, fischte eine Flasche aus den Tiefen des Fußraumes und goss sich erneut ein. »Das Schlimme ist, dass der ganze Block einem hohen amerikanischen Diplomaten gehört. Damit sind die Amis drin und der Krach vorprogrammiert. Ich vermute, bald wird irgendjemand ein Briefchen kriegen, in dem steht, dass sich die Hamas in Berlin die Ehre gegeben hat. Oder Osama Bin Laden oder irgendein anderer muslimischer Glaubenskrieger. Die sind doch genauso bescheuert und geisteskrank wie die Dominikaner und die spanischen Jesuiten im Europa zur Zeit der Inquisition. Ich hole dir Giovanni her. Und danke für deine Hilfe.« Als Ziemann weg war, steckte sich Mann eine Zigarette an und starrte vor sich hin. Ich keuche, stellte er verwundert fest. Wieso keuche ich? Ich bin nicht gerannt, ich habe auch keinen Vorschlaghammer geschwungen. Mit schmerzlicher Deutlichkeit erinnerte er sich, dass er diesen Zustand von Hilflosigkeit und gleichzeitiger gleißender Wut kannte. Die Erinnerung war wie ein schartiges Messer: Wenn sein Vater betrunken und tobend auf seine Mutter eingeschlagen hatte und sich der Zwölfjährige voller Angst bemühte, das lallende Ungeheuer irgendwie aus der Wohnung zu schaffen. Komm, Papa, wir gehen in Kalles Kneipe. Kalle hat bestimmt auch noch einen Schnaps für dich …

»Das ist Giovanni«, holte ihn Ziemann zurück. »Und das ist Staatsanwalt Mann. Ich lasse euch allein.« Mann nahm wahr, dass der Himmel jetzt schwarz war, die Nacht hatte längst die Herrschaft übernommen. Er reichte dem Italiener die Hand. »Meinen Sie, dass Sie mit mir dort hineingehen können?« »Klar«, nickte Giovanni. Er war mittelgroß, um die vierzig Jahre alt. Das zerstörte Lokal wirkte nun vollkommen verändert. Das Licht war grell, die Zahl der aufgestellten Scheinwerfer hatte sich vervielfacht. Die Szenerie wirkte künstlich, wie das Set eines Katastrophenfilms. Die Toten waren diskret und hastig abtransportiert worden, der Schrecken schien dadurch gemildert. Als hätten gütige Hände den Wichtigen der Stadt das Terrain bereitet, die Bühne gebaut, das Ganze mit dem Firnis unbeschränkter Sachlichkeit überzogen. Männer standen in kleinen Gruppen beieinander, Männer mit ordentlichen Hemden und dazu passenden Krawatten. »Meine verehrten Damen und Herren«, sagte gerade ein grauer Anzug: blaues Hemd, hellbraune Krawatte, hochrotes Gesicht. »Bilden Sie am besten einen Halbkreis um mich … Der Terrorismus ist brutal und ohne Vorwarnung in diese Stadt eingefallen. Wir werden Hilfe brauchen und jede Hilfe dankbar annehmen. Ganz gleich, ob es die Freunde vom FBI sind oder die Freunde vom Mossad oder die von der CIA. Wir sagen: Herzlich willkommen, und danken schon jetzt für die Unterstützung. Das hier war nicht nur der Versuch, den israelischen Gesandten und seine gesamte Familie brutal zu ermorden, es ist auch amerikanisches Eigentum zerstört worden. Das alles kann kein Zufall sein, ausgerechnet in dieser Stadt. Wir wollen da nicht eigen sein, nichts besser wissen … He, was wollen Sie hier?« Der Anzug hatte Mann und Giovanni entdeckt, sie störten ihn. »Wir rekonstruieren die Positionen der Restaurantbesucher zum Zeitpunkt der Explosion«, erklärte Mann freundlich. »Das ist die Arbeit der Mordkommission. Sie muss getan werden.« »Aber doch nicht jetzt«, pustete der graue Anzug empört. »Im Moment arbeiten schließlich wir hier.« »Ich habe einen Auftrag«, erklärte Mann neutral und ohne offenen Widerspruch. »Na ja, ausnahmsweise«, entschied der graue Anzug huldvoll. »Aber leise, wenn ich bitten darf.« Und dann, um wirklich das letzte Wort zu behalten: »Eigentlich hattet ihr Zeit genug! Und gleich kommt auch noch der Regierende.« Giovanni seufzte tief und sagte mit wissendem Lächeln: »Sie sind ein Sauhund. Wir brauchen jetzt ein Plätzchen für uns. Richtig?« »Das wäre hilfreich«, nickte Mann. »Das Treppenhaus«, sagte Giovanni. »Raus hier, links um die Ecke. Ecco!« 

Das Treppenhaus war hell erleuchtet, zu hören war nichts. Sie hockten sich nebeneinander auf eine Stufe. »Also, wo waren Sie, als die Bombe hochging?« »Hinter der Theke.« Giovanni deutete auf die Skizze, die Mann auf den Knien hielt. »Sehen Sie, da waren die Zapfhähne. Also, die fielen dann auf mich drauf. Ich wurde umgeworfen, weil von da oben, na ja, da oben ist nun ein Loch in der Decke. Das Zeug landete auch auf mir. Ich lag platt auf dem Rücken. Und als ich versuchte mich umzudrehen und aufzustehen, sah ich die beiden Kinder. Dicht vor meinem Gesicht. Es war … es war …« »Können Sie sich an die Sekunden vorher erinnern?« »Natürlich. Was wollen Sie wissen?« »Alles«, bestimmte Mann. »Wir zeichnen die Tische ein, hier und hier und hier. Und Sie sagen mir, wer wo war.« Er blickte Giovanni an. »Sie sind doch schon befragt worden?« »Ja klar. Zwei Stunden lang. Wer waren die Terroristen, wie sahen sie aus …« »Ja, und?« »Scheiße, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es mehrere waren oder nur ein Mann. Oder eine Frau. Solche Leute kommen doch nicht rein und fragen: Entschuldigung, welcher Arsch hier gehört dem Israeli?« »Wie spät war es? Wissen Sie das noch?« »Sicher. Neunzehn Uhr achtunddreißig.« Ein Handy sang aufdringlich quäkend eine Melodie, Giovanni sagte: »Entschuldigung«, und zückte sein Telefon: »Si. Giovanne. – O Mamma! Mamma, ich habe keine Zeit. – Nein, mir geht es gut. – Mamma, si Mamma, ich rufe dich zurück. – Nein, Mamma, nein, ich brauche keine neue Unterwäsche. Ciao, Mamma.« Er murmelte: »Sie macht sich Sorgen.« Mann lächelte. »An welche Personen erinnern Sie sich? Was schätzen Sie, wie viele Menschen waren hier?« »Siebzig, annähernd siebzig.« »Ach, du lieber Gott«, stöhnte Mann betroffen. 

»Wie viele kannten Sie, wie viele waren Ihnen fremd?« »Hälfte, Hälfte«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Giovanni grinste Mann vertraulich an. »Ich habe das alles schon mal erzählt. Diesem Ziemer oder wie der heißt. Ich weiß genau, wo wer war. Okay?« »Gut. Wenn ich das also richtig beurteile, stehen Sie hier und blicken in Ihren Gastraum. Geradeaus fünf Stehtische, links von Ihnen das Restaurant. Als es zur Explosion kam, wo sahen Sie das Zentrum der Explosion?« »Es war irgendwie links von mir, also zwischen den beiden Räumen. Sie können das jetzt nicht mehr erkennen, aber da war vorher ein Durchbruch, sechs Meter breit. Ging nicht anders, weil die Bedienung sonst nicht genügend Platz hatte. Ungefähr da, wo das Loch im Boden ist.« »Also links ungefähr vier Meter entfernt. War da jemand? Ich meine, eine Person, die mit dem grellen Blitz der Explosion in Zusammenhang zu bringen ist?« »Das weiß ich nicht.« »Es kann also auch jemand vorbeigegangen sein und eine Aktentasche oder so was auf den Boden gestellt haben?« »Abgestellt auf den Boden? Eher nein. Das wäre mir aufgefallen.« Mann überlegte und schüttelte dann sanft den Kopf. »Das wäre Ihnen mit Sicherheit nicht aufgefallen, Giovanni, denn einen Menschen mit Aktentasche – wie oft sehen Sie so etwas pro Tag?« »Ach so«, der Italiener seufzte zustimmend. »Na ja, es kommen viele zum Mittagessen und zum Abendessen mit Aktentasche. Direkt aus den Büros. Richtig, es wäre mir nicht aufgefallen. Aber dieser … dieser Kriminalist, dieser Ziemer …« »Ziemann«, korrigierte Mann. »Ja, dieser Ziemann sagt, man hat einen Arm gefunden. Das war wahrscheinlich der Terrorist. Weißes Hemd … an dem Arm, meine ich … Gott, ist das alles furchtbar!« »Zeichnen Sie bitte die Menschen an den Stehtischen ein und dann die an den anderen, im Restaurant.« Der Italiener arbeitete zügig und geschickt und schrieb zum Schluss die Namen, die er kannte, neben die Zeichnungen. Wusste er einen Namen nicht, schrieb er ein U für Unbekannt. Von den etwa siebzig Menschen konnte er zweiunddreißig Namen zuordnen, zumindest die Vornamen. »Jetzt stelle ich mir vor«, begann Mann, »ich bin der Terrorist. Ich weiß, Sie haben das alles mit Ziemann schon zehnmal durchgenudelt, aber ich schreibe den Befund. Also: Wenn ich Ihr Restaurant betrete, weiß ich, der israelische Botschafter sitzt rechts, weit hinten im Restaurant. Ich will möglichst nahe an den Mann, seine Familie und seine Freunde heran. Ich gehe also langsam und möglichst natürlich in seine Richtung. Gab es eigentlich Bodyguards?« »Nein. Der Botschafter kommt etwa einmal im Monat. Immer ohne Bodyguards. Mein Gott, der Mann will bei einem guten Italiener essen, der Mann braucht doch auch mal was Privates! Wenn ich ein Terrorist wäre, käme ich in mein Lokal rein, würde ein freundliches Gesicht machen und rüber zum Botschafter gehen. Niemand würde schreien, niemandem wäre das aufgefallen, denn da stand noch ein unbesetzter Vierertisch. 

Neben dem Tisch des Botschafters.« Giovanni lächelte, als habe er Mann eine Denksportaufgabe gestellt und als freue er sich diebisch darüber, dass Mann vermutlich versagen würde. »Habe ich was verpasst?«, fragte Mann verwirrt. »Es ist doch ganz einfach!«, flüsterte der Italiener. Mann kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und konzentrierte sich. »Es gab eine Panne«, murmelte er nach einer kleinen Ewigkeit schließlich. »Richtig«, strahlte Giovanni und fuchtelte wild mit beiden Armen. »Das sage ich den Leuten schon die ganze Zeit. Wer immer das war, er hat die Bombe zu früh gezündet. Viel zu früh. Wahrscheinlich war er aufgeregt, vielleicht hat die Zündung nicht richtig funktioniert. Sehen Sie hier, da steht der Stehtisch, den ich von der Theke aus gesehen als links außen bezeichne, also der Stehtisch, der dem Restaurantbereich am nächsten ist. An diesem Tisch stand ein älterer Herr, den ich hier noch nie gesehen habe …« »Ich weiß«, nickte Mann. »Häuptling Silberlocke. Ein Rechtsanwalt. Der Mann trug einen grauen Anzug, war etwa sechzig Jahre alt und hatte eine rote Nelke im Knopfloch.« »Stimmt«, bestätigte Giovanni. »Er kam zu mir und sagte, er sei mit einem jungen Mann verabredet. Der junge Mann hieße Mann. Das weiß ich noch, weil ich dachte, na ja, vielleicht ist der alte Herr ein bisschen schwul und hat ein Abenteuer mit einem schönen Knaben. Moment mal! Sie heißen … Sie sind dieser Mann, o Scheiße!« 

»Kein Problem«, Mann winkte ab. »Was hat er bestellt?« »Ein Glas trockenen Weißwein. Den hat es voll getroffen«, sagte der Italiener hohl. »Den Kopf hat es ihm weggerissen. Und seine Scheißnelke flatterte hoch und fiel genau auf mich. Und weil ich wusste, dass es … dass es eine Untersuchung geben würde, habe ich die Nelke auf seinen Bauch gelegt. Wie hieß er denn, wenn ich fragen darf?« 

»Dr. Walter Sirtel. Nochmal, Ihnen ist also keine Person besonders aufgefallen?« Giovanni schüttelte entschieden den Kopf. »Aber da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen muss.« Er grinste ein wenig verschlagen. »Sie haben mein Rätsel noch nicht gelöst.« »Wie bitte?« Mann war verunsichert. »Na ja, das Rätsel«, sprudelte Giovanni, plötzlich gut gelaunt. »Teil eins haben Sie geschafft. Sie haben kapiert, dass irgendwas mit der Bombe nicht geklappt hat, dass sie zu früh explodiert ist. Doch du musst zugeben, dass die ganze Sache ziemlich dumm angegangen worden ist. Oder?« Hoffentlich dreht er jetzt nicht durch!, dachte Mann matt. »Was ist denn so dumm an der Sache?« »Na gut, ich zeige es dir. Komm mit!« Er fasste Mann fest am Arm und zog ihn mit sich fort auf die Straße. Dort lief er ein paar Schritte an der Fassade entlang, blieb stehen und machte eine kreisende Bewegung mit der rechten Hand. »Das ist mein Lokal. Du hast es selbst gesagt: Der Terrorist kommt rein, guckt nach dem Israeli und dann geht die Bombe hoch.« »Auf was willst du hinaus? Ich verstehe es einfach nicht!« »Der Israeli kommt mit seinen Leuten rein. Ich nehme mal an, der Terrorist wartet irgendwo hier auf der Straße oder da vorne an der Ecke auf dem Ku’damm. Er sieht den Botschafter jedenfalls kommen, nicht wahr?« »Das war vermutlich so.« Mann bemerkte, dass mindestens zwei Fernsehkameras direkt auf sie gerichtet waren. 

»Der Terrorist stand in einem Hauseingang oder er hockte in einem Auto. Er wartete, bis der Israeli mit seiner Begleitung im Lokal verschwunden war. Dann ging auch der Terrorist rein.« »Jetzt frage ich dich: Warum geht er in mein Lokal?« »Na, hör mal«, sagte Mann ablehnend und verblüfft. »Soll ich das Ganze nochmal von vorne erklären?« Der Italiener gestikulierte lebhaft. »Nimm an, du bist der Terrorist. Du willst an mich ran. Ich bin der Botschafter. Was tust du?« Mann begann leise zu lachen. »Du bist auch ein Sauhund, Giovanni. Aber du hast Recht. Natürlich gehe ich nicht in das Lokal. Natürlich schmeiße ich die Bombe einfach durch das Fenster. Denn fünfzig Zentimeter dahinter sitzt der Botschafter.« »So ist es. Deshalb ist die ganze Sache irgendwie dumm. Doch ich glaube nicht, dass es dumme Leute waren, die das hier gemacht haben.« »Nein, sicher nicht. Na, dann ruf jetzt mal deine Mama an. Und herzlichen Dank für die Mitarbeit.« 

»Alles, was ich aufgebaut habe, ist im Arsch. Aber wenn alles wieder okay ist, dann komm vorbei auf einen Grappa.« Giovannis Stimme war weinerlich geworden, aber fast im gleichen Atemzug redete er schon mit seiner Mamma und versicherte ihr laut und fröhlich, alles sei halb so schlimm. Mindestens zehn Fotografen knipsten ihn dabei und mindestens fünf Fernsehkommentatoren winkten ihn heftig zu sich her: ein ganzes Königreich für Giovanni. Mann beobachtete den Italiener noch einen Moment mit Erheiterung und bemerkte dann, dass der graue Anzug, sein Gefolge und die Pressemeute inzwischen verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben. Jetzt hatten Bauleute das Lokal besetzt. Sie stellten schwere Balken auf und stützten die Reste des Flachdachs ab. Ein Mann fiel ihm auf, der zögernd auf der Fahrbahn des Kurfürstendamms stand und in das zerstörte Lokal starrte. Er hielt den Kopf vorgestreckt und erinnerte an einen dürren neugierigen Vogel, der genau weiß, dass irgendwann die Zeit fürs Fressen kommen wird. Er trug einen Trenchcoat, hatte beide Hände tief in den Taschen vergraben und bewegte keinen Muskel in seinem hageren Gesicht, das ein dichter schwarzer Haar schopf umgab. Mann fühlte sich zuständig, also stakste er durch den Schutt und fragte leutselig: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Der Mann sagte keinen Ton, sah sein Gegenüber eindringlich an, als habe er Fragen. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich weg, überquerte langsam den Kurfürstendamm und schlüpfte zwischen zwei Polizeibeamten unter der rotweißen Banderole der Absperrung hindurch. Mann fiel Tante Ichen ein. Er schaltete sein Handy wieder ein und rief sie an: »Jochen hier. Du sitzt wahrscheinlich vor dem Fernseher, wenn ich dich und die deutsche Wirklichkeit richtig einschätze.« Gelassen antwortete sie: »Richtig. Und ich bekomme auf sämtlichen Kanälen dein wunderbares Gesicht gezeigt. Schweigsam, wie meistens, kein Lächeln, keine Reaktion.« »Was?«, fragte er verblüfft. Dann erinnerte er sich an die vielen Kameraleute. »Das ist mir aber peinlich.« »Das braucht dir nicht peinlich zu sein, mein Junge. Du hast sehr professionell gewirkt, nicht im Geringsten aufgeregt. Was ist da los? Hat man wirklich versucht, den israelischen Botschafter zu töten?« 

»So sieht es aus, Tante Ichen.« »Aber er ist aus der Stadt gebracht worden, wie ich höre.« »Das ist auch richtig.« »Und wohin, wenn ich fragen darf?« »Das weiß ich nicht. Und ich will das auch gar nicht wissen.« »Ich kann es dir aber sagen«, entgegnete sie spitz. »Sie haben ihn und seine Familie nach London ausgeflogen. Das Ganze ist für uns Deutsche nicht gerade günstig, was?« »Nein, wahrhaftig nicht.« Sie schwieg eine Weile und meinte dann mit dünner Stimme: »Aber für dich ist es günstig, mein Junge.« »Nicht so was!«, wehrte er angewidert ab. »Du weißt, weshalb ich hier war. Ich habe bloß ein wenig ausgeholfen. Das ist alles und das wird alles bleiben.« »Ha!«, triumphierte sie. »Dauernd sage ich dir: Du musst dich unauffällig nach vorn schieben. Die Betonung liegt auf ›unauffällig‹. Na bitte, das ist deine Chance.« »Nein, Tante Ichen. Das ist durchaus nicht meine Chance. Ich werde meine Protokolle schreiben und sie abgeben und dann in mein Dienstzimmer zurückkehren. Abteilung Jugend kriminalität.« Sie machte wieder: »Ha!« Ihre Stimme kiekste noch ein wenig mehr, als sie fragte: »Er ist wohl tot, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Mann. Weil er sie abschrecken wollte, setzte er hinzu: »Weißt du, ihn hat die Bombe wohl am stärksten getroffen. Er … er hatte keinen Kopf mehr und auf seinem Bauch lag die rote Nelke.« »O Gott, das ist ja furchtbar. Im Fernsehen haben sie davon gar nichts gesagt.« »Das ist auch verdammt gut so«, polterte Mann. »Und jetzt entschuldige mich, ich muss noch in eine Besprechung.« »Ja. Falls du nicht in diese … in diese gemeinsame Wohnung gehen willst, komm her. Dein Zimmer gibt es schließlich noch.« »Warum sollte ich nicht in meine Wohnung gehen wollen?«, fragte Mann aufgebracht. Er hatte von Beginn an gewusst, dass sie etwas gegen Katharina hatte. Sie hatte mal nach einem Sonntagnachmittag mit Kaffee und Kuchen zu dritt geäußert, Katharina habe nicht das notwendige Format, sei entschieden zu spießig und furchtbar zwanghaft. Doch wenn er unbedingt darauf bestünde, dann sollte er sich austoben und sie anschließend vergessen. Mann hatte daraufhin eine ganze Zeit kein Wort mehr mit seiner Tante gewechselt. »Weil diese Frau mit Sicherheit … Ach, lassen wir das. Komm, wenn du willst, du brauchst vorher nicht anzurufen.« 

Er wollte ihr diese Nickligkeiten nicht durchgehen lassen, er wollte sie irgendwie bestrafen. »Du maßt dir ein Urteil an über eine Sache, von der du nichts verstehst. Trotzdem kannst du mit meinem Besuch rechnen. Du musst mir nämlich erzählen, was dieser Sirtel von mir wollte. Sag nicht, dass du keine Ahnung hast. Du hast Ahnung und du wirst dich nicht um eine Aussage herumdrücken können.« »Aber ihm galt doch der Anschlag gar nicht!«, blaffte sie empört. »Das nicht. Aber die Ermittler werden alles untersuchen, wirklich alles, Tante Maria.« Wenn er sie mit ihrem vollen Namen anredete, war sie auf der Hut. »Also, bis später«, erwiderte sie sanft wie ein Lamm. Mann fand Ziemann dieses Mal im Laderaum eines dunkelgrauen Mercedes-Kleinlasters ohne Aufschrift. Der Kriminalrat hockte im Schein einer kleinen Bürolampe auf einem stoffbespannten Hocker und starrte auf einen menschlichen Arm, der, zerrissen und blutig, behängt mit den Fetzen eines weißen Oberhemdes in einer Kiste lag. »Komm rein, mach die Tür zu. Das ist das letzte Beutestück, das mir geblieben ist. Wir vermuten, dass dieser Mann die Bombe zündete. Sieh mal, er trug einen einfachen Silberring, wie man ihn auf Trödelmärkten kaufen kann, und er war jemand, der nicht sonderlichen Wert auf Seife legte. Seine Haut und seine Fingernägel sind ungepflegt und schmutzig. Sieht aus wie die Hand eines Mannes, der viel mit Motoren umgeht, KfzGewerbe vielleicht. Kann jemand sein, der im Untergrund gelebt hat, möglicherweise ein Techniker, der die Bombe selbst bastelte. Aber warum, verdammte Socke, hat er dann die Bombe nicht so gebaut, dass er sie abstellen und zünden konnte, nachdem er das Restaurant verlassen hatte? Das ergibt keinen Sinn.« »Der Italiener ist der Auffassung, dass die Zündung nicht richtig funktionierte. Die Bombe ging hoch, während sie vom vorderen Teil des Restaurants in den hinteren Teil transportiert wurde. Da befindet sich der tiefste Explosionskrater. Also noch viel zu weit entfernt vom Botschafter. Und noch eine Erkenntnis dieses pfiffigen Giovannis: Wenn der Terrorist erst draußen auf den Botschafter gewartet hat, dann war es vollkommen unlogisch, dass er in das Lokal hineinging. Logischer wäre es gewesen, dem Botschafter die Bombe durch das Fenster an den Kopf zu werfen.« Ziemann kicherte ganz hoch, es war ein merkwürdiger Laut. »Danke für diesen Hinweis. Der Gedanke ist mir auch sofort gekommen.« »Was war das eigentlich für eine Bombe?« »Alles, was wir bisher wissen, ist, dass es sich um eine einfache, aber wirkungsvolle Rohrbombe gehandelt hat. Wahrscheinlich drei-oder vierteilig. Und wahrscheinlich war sie, teilweise zumindest, mit Schrauben und Nägeln gefüllt. Auf kurze und mittlere Distanz war sie absolut tödlich, riss alles in Fetzen … Du hast es ja gesehen. Der Sprengstoff selbst muss noch bestimmt werden. Es sieht so aus, als … Na ja, nun spiele ich in diesem Fall ja sowieso nur noch die Rolle eines Handlangers. Und von dir wird bald auch kein Mensch mehr reden.« Er grinste schmal mit zusammengekniffenen Augen. »Schreibst du mir trotzdem auf, was du herausgefunden hast?« »Selbstverständlich.« Mann musste gebückt stehen, weil der Laderaum nicht hoch genug war. Ziemann kramte in einer Kiste, die neben ihm stand, und zog einen kleinen schwarzen Plastiksack hervor, in den er den Arm schob und den er dann mit einem Reißverschluss verschloss. »Mit diesem Kerl hätte ich mich gern unterhalten. Was glaubst du, wann hast du deinen Bericht fertig?« »Ich brauche mit den Zeichnungen einen Tag, nehme ich an«, antwortete Mann. »Gut. Dein Chef kriegt einen Anruf von mir, dass ich dich für mich erobert habe und dass du erst in einigen Tagen wieder an deinen Schreibtisch zurückkehren wirst. Einverstanden?« »Gut«, nickte Mann, ein wenig erstaunt. Dann fiel ihm etwas ein: »Was ist mit der Frau, die wir in der Toilette gefunden haben?« »Oh, die dürfen wir nicht vergessen. Sie ist in die Charité gebracht wurden. Das Blut stammt allerdings nicht von ihr, sondern von jemand anderem. Irgendwie ein Wunder, dass sie unverletzt ist. Sie muss nämlich ganz in der Nähe der Stelle gewesen sein, wo die Bombe explodierte. Ich nehme an, dass sie noch heute nach Hause entlassen wird … Am besten wäre es, wenn du sie gleich noch aufsuchst. Quetsch sie aus! 

Sie heißt … verdammt, wo habe ich den Zettel?« Er fummelte in seinen Taschen herum, förderte ganze Stapel von kleinen und winzig kleinen Zetteln zu Tage, suchte darin herum und las dann vor: »Marion Westernhage, vierunddreißig. Wohnt irgendwo in Mitte, warte mal, ja hier: Stralauer Straße 13. Notiert? Gut. Und noch einmal vielen Dank.« Er sah zu Mann hoch und wirkte zum ersten Mal unsicher. Mann war irritiert. »Warum soll ich diese Frau besuchen? Der Fall ist nicht mehr unser Fall.« »Das ist richtig. Aber die Aussage dieser Frau ist möglicherweise wichtig. Und du, mein Lieber, verfügst über das erste Gesicht, das diese total geschockte Frau nach der Explosion gesehen hat. Als sie noch nicht wusste, ob sie schon im Himmel oder noch auf der Erde war. Und ich will wissen, was sie weiß.« Ziemann beugte den Kopf vor. »Ich bin ein sehr alter Hase und weiß gern, was läuft. Auch wenn ich nichts mehr damit anfangen kann.« »Du traust dem Braten hier überhaupt nicht«, stellte Mann verblüfft fest. »Ich traue der Politik nicht«, nickte Ziemann. »Reich mir deine Berichte persönlich rein, kein Dienstweg. Geht das?« »Du solltest vielleicht ein, zwei Stunden schlafen.« »Das sagt meine Frau auch immer«, lächelte der Kriminalrat. »Aber wegen der Dringlichkeit des Falles bin ich jetzt gezwungen, in die Pathologie zu fahren und Zeuge der ersten Obduktionen zu sein. Wer immer diese Bombe explodieren ließ, er stammt aus dem Reich des Bösen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat kürzlich den gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten einen dekadenten Menschen genannt, an dem der Besuch der besten Schulen des Landes spurlos vorbeigegangen ist. Kaum ist hier die Bombe geplatzt, nennt der Präsident auch schon öffentlich die Namen der Mörder, alles Terroristen. Er sagt, dass dieser Anschlag die eindeutige Handschrift der Talibankrieger um Osama Bin Laden trägt. Und dass das amerikanische Volk nicht dulden werde, dass der Krieg nach Berlin hineingetragen wird. Diese Stadt habe in der Vergangenheit so viel gelitten. Er werde persönlich dafür sorgen, dass dergleichen nicht wieder vorkommt. Und ich, der kleine Ziemann, sage dir: Wer immer diese Bombe geworfen hat, mein Junge, er meinte nicht den Israeli.« Ziemanns Ton war böse, angriffslustig, verächtlich. »Aber der Innenminister wird doch ein ordentliches Ermittlungsverfahren auf die Reihe bekommen!« Mann kam sich ein wenig so vor wie ein Kind, das etwas verstehen soll, was es nicht verstehen kann. Ziemann reagierte nicht, sondern zog ein großes leinenes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über das Gesicht. »Wir sehen uns«, murmelte Mann höflich, denn Ziemann wollte wohl nichts mehr sagen. Mann ging in die Nacht, entfernte sich vom Ort des Schreckens, um nach wenigen Metern schmerzhaft feststellen zu müssen, dass er den Schrecken in sich trug. Ein uniformierter Polizist hob das Plastikband hoch, um ihn passieren zu lassen. »Feierabend, was?« »Noch nicht ganz«, gab Mann zurück und trabte versunken in eine Gruppe Neugieriger hinein. Eine Frau stieß ihn an: »Wie viele hat es denn erwischt?« »Vierzehn«, antwortete Mann mechanisch. Brüsk drehte er sich um und kehrte zurück an die Stelle, wo der Unbekannte mit dem Vogelkopf durch die Absperrung geschlüpft war. Eine Polizistin stand dort. »Mann ist mein Name, Staatsanwaltschaft«, sagte er. »Im Laufe des späten Abends ist hier ein Mann aufgetaucht, der einfach nur den Unglücksort anstarrte, sonst nichts. Dann machte er kehrt und verschwand wieder. Können Sie sich an ihn erinnern?« »So ein dunkler Typ«, nickte sie. »Hat nichts gefragt, wollte nichts wissen, kam her, zeigte mir seinen Dienstausweis und stand dann mindestens eine halbe Stunde vor dem kaputten Lokal. Der war vom Verfassungsschutz!«, sagte sie. »Und der Name?« »Den weiß ich nicht mehr, aber der Ausweis war sauber.« Wahrscheinlich hätte sie sich den Namen notieren müssen und war deshalb leicht verlegen. »Kein Problem«, meinte Mann freundlich und machte sich endgültig auf den Weg.

ZWEITES KAPITEL 


Mann lief gebeugt, als wollte er sich verstecken. Die meisten Kneipentüren standen weit auf. Das Volk der Nacht war laut und sehr fröhlich. Er begann zu frieren und fragte sich, weshalb er seinen Mantel zu Hause gelassen hatte. Dann fiel ihm ein, dass er zu Beginn des Abends einen Trenchcoat getragen hatte. Er konnte sich später nicht daran erinnern, in welcher Straße ihn die junge Hure angesprochen hatte. Er schätzte sie nicht älter als vierzehn, fünfzehn Jahre, aber ihr Blick war der einer Greisin. Sie war klein und schmal mit einer durchscheinenden Haut und blassblauen Augen. Sie trug eine elend kurze Hose aus Jeansstoff mit einem zu großen weißen T-Shirt, wahrscheinlich hatte ihr jemand gesagt, das würde Männer anmachen. Kindlich sagte sie: »Du kriegst bei mir das volle Menü.« »Wie bitte?«, fragte Mann verblüfft. »Na ja, du kannst alles haben. Wirklich alles. Ich bin gut.« »Ach, Kindchen«, Mann war es lästig, mit dieser Art von Wirklichkeit konfrontiert zu werden. »Mir ist nicht nach so was.« »Aber ich bin gut. Auch zum Beispiel im Kuscheln.« Sie stakste auf dünnen Beinen neben ihm her. »Das ist nett von dir. Sag deiner Mutter einen schönen Gruß.« »Kennst du die etwa?« »Nein«, gab Mann zurück. »Ich muss weiter, ich will heim.« »Diese Nacht ist wirklich nichts los«, klagte sie. »Wegen der Sache am Ku’damm. Siebzehn Tote haben die eben im Fernsehen gesagt.« »Ich wusste nur was von vierzehn«, murmelte Mann hohl. Stralauer Straße Nummer 13 war ein Neubau, viergeschossig mit glatter, abweisender weißer Straßenfront, in der die Fenster wie dunkle Gucklöcher wirkten. Es gab sechs Klingeln. Zwei davon gehörten zu einer Firma namens Immosat, die vier anderen waren mit Familiennamen versehen. Nach Anordnung der Klingeln wohnte die Frau im ersten Stock rechts. Westernhage stand da. Mann schellte und dachte unbehaglich, dass es eine schier unglaubliche Zeit war. Zwei Uhr neunzehn. Erstaunlich schnell fragte eine hellwache Frauenstimme: »Ja, bitte?« »Staatsanwaltschaft. Mein Name ist Mann. Kann ich Sie sprechen?« »Selbstverständlich«, sagte die Stimme, blechern verzerrt durch den Lautsprecher. Mann drückte die Tür auf und ging die Treppe hinauf. Das Treppenhaus war edel gehalten. Aus Tropenholz die klobigen Stufen genauso wie der Handlauf, an den Wänden breite rote Steinstreifen, die aussahen, als handle es sich um Marmor. Gab es roten Marmor überhaupt? Die Frau stand in der halb offenen Wohnungstür und lächelte etwas nervös mit breitem, grell geschminktem Clownsmund. Sie trug irgendetwas halb Durchsichtiges mit einem bläulichen Schimmer und Mann konnte erkennen, dass ihr Slip nur ein schwarzes Etwas war. Sie hatte wohl geduscht, denn ihr Haar war noch nass. »Ich habe mir schon gedacht, dass noch jemand auftaucht«, sagte sie. Ihre Stimme war ein klarer Alt. »Schönen Dank, dass Sie mich auf dem Klo gefunden haben.« »Schon gut. Wissen Sie denn, wie Sie dorthin gekommen sind?«, entgegnete Mann. Sie reichte Mann kaum bis zur Schulter und wirkte zierlich. Ihre Füße steckten in einfachen roten Lederslippern. »Machen Sie bitte die Tür zu«, sagte sie statt einer Antwort und ging vor ihm her. »Sie müssen die etwas verrückte Zeit entschuldigen, aber wir wollen ganz schnell mit … mit jedermann sprechen, der das überlebt hat.« »Natürlich«, nickte sie. »Wollen Sie etwas trinken?« »Nein danke. Oder vielleicht doch, ein Wasser.« Der Raum war sehr groß und die Einrichtung aus Glas, Acryl, Stahl und gebürstetem Aluminium, das Ganze wirkte sachlich und kühl, streng aufeinander abgestimmt, handgemacht, teuer. Zu der Sitzecke gehörte ein kantiges Sofa aus schwarzem Leder. Es gab drei überdimensionierte Bodenvasen mit weißen Liliengewächsen, aber es war nicht auszumachen, ob sie aus Seide oder tatsächliche Blumen waren. Mann fühlte sich unbehaglich, er dachte: Hier kann niemand wirklich zu Hause sein. »Ich habe erst mal eine Stunde lang geduscht.« Marion Westernhage brachte eine Flasche Wasser und ein Glas und goss ihm ein. Dann setzte sie sich jenseits des flachen Tisches auf das Sofa, zog die Beine unter den Körper und sah ihn brav an. »Fragen Sie.« Es klang wie: »Fragen Sie, aber nicht zu sehr!« Mann nahm ein Glas und trank einen Schluck. »Ich bin da reingerutscht, ich helfe nur aus. Und ich muss aussehen wie ein Erdferkel. Darf ich mir eben die Hände waschen?« »O ja, natürlich. Das Badezimmer ist links, erste Tür. Ich glaube, ich trinke einen Sekt.« Mann schloss die Tür hinter sich ab. Er zog seinen schwarzen Rolli aus und ließ ihn auf den Boden fallen. Dann wusch er sich gründlich mit kaltem Wasser ab. Ich bin verrückt, nachts durch Berlin zu laufen und Leute mit Fragen zuzupflastern, dachte er. Ich muss verrückt sein. Na ja, aber ich habe einen Auftrag, ich mache es für Ziemann. Der steht wahrscheinlich gerade in der Pathologie und schaut den Metzgern zu. Das ist viel schlimmer als das hier. Die Badewanne war nicht aus Plastik und teuer ausgestattet als Whirlpool für zwei Personen. Die Beschläge, an denen Bademäntel und Handtücher hingen, sahen aus, als seien sie vergoldet. Sie ist ein Goldstück, überlegte Mann melancholisch. Es gibt jemanden, der sie sich leistet. Er öffnete den verspiegelten Schrank über dem Waschbecken. Wenig überraschend gab es eine Herrenabteilung mit Rasierpinsel, einem Topf Rasierseife und einem Rasierwasser von Hermès. Einer der weißen Bademäntel war für die Frau entschieden zu groß. Mann zog den Pulli wieder über und ging zurück in den Wohnraum. »Es dauert nicht lange«, versprach er. »Ich kann sowieso nicht schlafen.« Sie hatte eine kleine Flasche Champagner geöffnet und sich ein Glas eingegossen. »Was heißt das, dass Sie zufällig dort gewesen sind?« »Ich war in dem Lokal mit jemandem verabredet.« Er zog aus der Gesäßtasche der Hose einige Blätter Papier, die er vorsorglich eingesteckt hatte. Penibel legte er sie vor sich hin und sagte munter: »Erst einmal schnell die Personalien. Sie heißen Marion Westernhage, die Wohnung hier ist Ihre?« »Ja. Ich bin am dreizehnten April 1966 in Bremen geboren worden. Geschieden. Von Beruf bin ich Bankkauffrau.« »Sie sind angestellt?« »Ja, angestellt. Ich bin Sachbearbeiterin im Vorzimmer des Vorstandes. Bei einer Bank, bei Gerhard Dreher, also bei der Bankgesellschaft.« Sie lächelte. »Ich bin selbstverständlich nicht vorbestraft.« »Oh! Dann arbeiten Sie in einem sehr unruhigen Haus.« »Im Moment schon«, nickte sie ironisch. »Weltuntergang sozusagen. Sind Sie schon vor der Explosion da gewesen oder erst später gekommen?« Sie trank ihr Glas mit einem langen, durstigen Zug leer. Als sie es auf die Glasplatte zurückstellte, bemerkte Mann die Tablettenschachtel. Eine Packung Valium 20 »Später. Ein paar Minuten. Und jetzt erzählen Sie bitte, wie Sie das erlebt haben. Von Beginn an. Wieso waren Sie dort?« »Es war wie bei Ihnen. Ein Zufall«, sagte sie. »Ich habe bis halb acht gearbeitet. Anschließend war ich mit einem Freund verabredet. Wir wollten essen gehen und er hat das Francucci’s vorgeschlagen.« »Sie trafen ihn. Und dann?« Mann hatte plötzlich den Eindruck, als versteife sie sich, als seien ihre Augen größer geworden. Und sie bewegte sich nicht mehr. Sekundenlang wirkte sie wie eine Puppe aus Porzellan. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, sie nahm die Flasche und goss sich nach. »Ich traf ihn gar nicht. Mein Freund erschien nicht.« »Kann ich bitte den Namen und die Adresse dieses Freundes erfahren? Es ist nur der Ordnung halber.« »Das möchte ich nicht«, sagte sie leise und starrte auf einen blauen chinesischen Seidenteppich, der nach Manns bescheidenem fachlichem Wissen ein Vermögen gekostet haben musste. Er spürte einen jähen Zorn in sich aufsteigen. »Warum nicht? Wir gehen mit diesen Angaben nicht leichtsinnig um.« »Er ist verheiratet.« Ihre Augen forderten: Komm mir nicht zu nahe! »Hören Sie, Frau Westernhage, jemand hat versucht, den israelischen Botschafter mitsamt Familie in die Luft zu sprengen. Es gibt mindestens vierzehn Tote. Ich bin die entschieden freundlichste Lösung Ihres kleinen Problems, denn ich kann mich sehr diskret bei Ihrem Bekannten erkundigen, ohne eine mögliche Ehefrau oder mögliche Kinder aufzuscheuchen. Die Leute, die nach mir kommen, können das Wort Diskretion nicht einmal buchstabieren. Also, von vorne. Sie sitzen im Vorzimmer Ihres Chefs, Dreher heißt er, und machen um neunzehn Uhr dreißig Schluss. Dann sind Sie rüber zum Ku’damm. Mit dem eigenen Wagen?« »Nein, ich habe ein Taxi genommen. Wieso müssen Sie den Namen des Freundes wissen? Er ist doch gar nicht gekommen.« Das klang vorwurfsvoll. Mann blies die Backen auf, er wollte raus aus dieser Wohnung. Diese Westernhage war eine Zicke und ihre Stimme klang zunehmend aggressiv und unkontrolliert. »Die Ermittler nach mir werden sogar den Taxifahrer ausfindig machen, Ihr Bankkonto lesen und Ihr gesamtes Vorleben auskundschaften bis zurück zu den Windeln. Seien Sie klug, ersparen Sie sich Unannehmlichkeiten und reden Sie mit mir.« Sie fuhr mit der Rechten über das glatte Leder. »Das geht nicht.« Mann nickte. »Wem gehört der Rasierpinsel im Bad?« »Was hat denn der Rasierpinsel mit der Sache am Ku’damm zu tun?« »Stellen Sie mir keine dämlichen Gegenfragen«, erwiderte Mann scharf. »Machen Sie sich doch mal das Ausmaß dieser Sache klar: Das Haus eines Amerikaners ist in die Luft geflogen und der Präsident in Washington hat gesagt, dass die Täter aus dem Reich des Bösen stammen. Was glauben Sie, was mit Ihnen geschieht, wenn ich behaupte: Die Dame will den Namen ihres Lovers nicht verraten?« »Huh«, machte sie theatralisch und sichtlich erheitert. »Jetzt ist der Oberindianer aber sauer. Wissen Sie, ich erledige meine Probleme gern der Reihe nach. Erst mal Sie und dann die bösen Jungen, die nach Ihnen kommen.« Ich kann auch anders, dachte Mann und seufzte. »Also gut, wenden wir uns einem anderen Thema zu: Wo waren Sie genau, als die Bombe hochging?« Es war, als senke sich ein Vorhang in ihren Augen, ihre Hände zitterten. Sie nahm einen hastigen Schluck von ihrem Champagner und ein paar Tropfen liefen ihr über das Kinn. Dann stand sie auf, lief durch den Raum und suchte etwas. Sie kehrte mit einer Zigarettenschachtel in der Hand zurück, hockte sich auf das Sofa und zündete sich eine an. »Ich rauche selten«, erklärte sie. »Tja, wie war das?« »Ich zeichne Ihnen den Grundriss des Restaurants auf. So, hier ist der Eingang, die Stehtische. Da war die Truhe mit den Antipasti, dann kommen die Theke mit den Zapfhähnen und der Durchgang zum Restaurant. Wo waren Sie?« »Erst war ich auf der Straße. Also vor dem Restaurant.« »Wie lange haben Sie da gewartet?« »Fünf Minuten, schätze ich. Dann wurde es kühl, ich ging hinein.« »Ist Ihnen auf der Straße irgendetwas aufgefallen? Irgendein Mensch, ein Auto, irgendwas, was Ihre Neugier erregte?« »Nein, nichts.« »Gut, Sie gehen also rein. Wohin genau gehen Sie?« »Zu dem Stehtisch links, also dem, von dem aus man durch das Fenster direkt auf den Ku’damm sehen kann.« »Sind Sie allein an dem Tisch?« Er kramte hastig in seinen Unterlagen und fand Giovannis Zeichnung. Giovanni hatte an den Stehtisch links außen geschrieben: U. Frau, rund dreißig. »Ja, ich stand allein an dem Tisch.« »Kam ein Kellner zu Ihnen?« »Ja, sofort. Er räumte Gläser weg und ich bestellte einen trockenen Weißwein. Den brachte er auch gleich.« »Gut, weiter. Kannten Sie jemanden an den Nachbartischen?« Er beobachtete sie genau und stellte fest, dass sie hellwach war und auf der Hut. Da war etwas, was sie unruhig sein ließ. Mit einem unbewegten Gesicht antwortete sie: »Nein, ich kannte niemanden.« »Wie standen Sie? Mit dem Rücken zum Lokal oder mit dem Rücken zur Straße?« »Mit dem Rücken zum Lokal. Ich wollte meinen Freund sehen, wenn er kam.« »Was geschah dann?« »Dann gab es die Explosion.« »Die Bombe explodierte also in Ihrem Rücken?« »Korrekt. Ich wurde … ich flog irgendwie. Gegen eine Mauer. Aber da war eigentlich das Fenster, keine Mauer. Trotzdem war es eine Mauer. Die Mauer zwischen dem Eingang und dem Fenster. Und sofort war alles dunkel. Viele Menschen schrien. Ganz schrill. Das … das war grauenhaft, das höre ich immer noch …« Sie beugte sich vor, ihre Schultern bewegten sich zuckend. Sie wiegte sich vor und zurück. Mann blieb sachlich. »Lagen Sie auf dem Bauch oder auf dem Rücken? Oder auf der Seite?« Sie schüttelte heftig den Kopf, stand abrupt auf und verließ den Raum. Auch Mann sprang auf und lief unruhig hin und her. Er hörte, dass sie die Klospülung betätigte. Er fragte sich, ob es nicht notwendig war, sie brutaler anzugehen. Aber das behagte ihm nicht, das war nicht sein Stil. Über einer niedrigen Truhe hing ein großer Baselitz. Mann schaute genauer hin. Das Gemälde schien ein Original zu sein. Marion Westernhage kehrte zurück und sagte noch im Gehen: »Ich lag auf dem Rücken und irgendjemand lag auf mir. Alles an mir war nass. Ich habe überhaupt nicht kapiert, dass es Blut war. Alles war nass. Ich habe geschrien, wollte wegrennen und konnte nicht. Es … es war furchtbar.« »Aber Sie haben sich befreien können?«, fragte er sanft. »Ja, irgendwie. Der Mann auf mir, der war tot. Ich sah nichts, überall war dichter Nebel. Staub und so. Und ich kriegte keine Luft mehr. Ich weiß auch nicht …« »Was wissen Sie nicht?« »Na ja, jetzt frage ich mich ständig, warum ich nicht auf die Straße gelaufen bin. Aber es ist möglich, dass ich die Straße nicht gesehen habe. Ich bin mir der Straße gar nicht bewusst geworden. Ich weiß nur, ich sah ein kleines Schild mit WC drauf. Dann bin ich in die Richtung gestolpert. Völlig idiotisch, das zu tun. Ich habe die Tür zu der Kabine aufgemacht und dann muss ich das Bewusstsein verloren haben. Ihr Gesicht war das Erste, was ich dann wieder wahrgenommen habe.« »Hoffentlich haben Sie mich nicht für einen Engel gehalten«, meinte er leichthin. »Kann ich nun vielleicht doch ein Glas Champagner haben?« »Aber ja. In dem Schrank da hinten sind die Gläser.« In die plötzliche Stille des Raumes sagte sie: »Ich weiß nichts von Ihnen. Erzählen Sie doch mal von sich.« Mann war erstaunt, begriff aber dann, dass ihre Aufforderung möglicherweise ein Schlüssel zu ihr war. »Tja, ich bin Staatsanwalt. Ich bearbeite die Akten jugendlicher Straftäter. Mein Arbeitstag dauert normalerweise zwischen zwölf und vierzehn Stunden.« Er lächelte. »Wir Staatsanwälte sind ein elitärer Haufen, wir glauben, dass wir die einzig wahren Juristen sind, die absolut besten. Diese Stadt ist meine Stadt, ich bin hier geboren, ich habe hier studiert. Und ich lebe seit vielen Jahren mit derselben Frau zusammen. Wir wohnen in der Kastanienallee in Mitte.« »Haben Sie einen Traum?« Er wollte mit einer Floskel antworten, etwas sagen wie: »Geht das jetzt nicht zu weit?« Dann erinnerte er sich an einen Ausbilder, der mal geraten hatte: »Geben Sie jedem Zeugen das Gefühl, der einzige wirklich gute Zeuge zu sein.« Deshalb antwortete er: »Ich habe durchaus Träume. Berufliche Träume. Ich würde gern das Amt eines juristischen Beraters bei einem großen Industriekonzern ausüben. Irgendwann einmal.« »Keine privaten Träume? Heirat? Kinder?« »Keine Heirat, keine Kinder«, antwortete er knapp. »Wollen Sie mir den Namen Ihres Essenspartners nicht doch verraten?« »Lieber nicht«, sagte sie. »Das könnte zu Missverständnissen führen. Es gibt Situationen, die unweigerlich zu Missverständnissen führen. Das müssten Sie als Staatsanwalt doch eigentlich wissen.« »O ja, das weiß ich sehr gut. Wollen Sie ein Missverständnis hören?« »Na ja, wenn es ein gutes Missverständnis ist.« Mann lächelte. »Hier wohnt manchmal ein Mann. Er ist Ihr Chef. Ihm gehört diese Wohnung. Und Sie wollten zusammen essen gehen. Aber er kam nicht. Ist es so gewesen?« Augenblicklich war sie beleidigt. »Diese Wohnung gehört mir«, sagte sie scharf. »Mir ganz allein. Das Katasteramt wird Ihnen das bestätigen. Damit ist das erste Missverständnis aus der Welt. Der Rasierpinsel gehört meinem Chef, das Missverständnis ist in Ordnung. Aber ich wollte nicht mit ihm essen gehen. Denn er war gestern in Düsseldorf, von da aus ist er nach München geflogen und morgen ist er in Köln. Also Chef ist nicht. Sind Sie jetzt enttäuscht?« Mann lachte. »Nein, bin ich nicht. Behalten Sie den Namen Ihres geheimnisvollen Begleiters ruhig für sich. Ich bin überzeugt, die Herren, die nach mir kommen, werden ihn erfahren.« »Da wäre ich nicht so sicher.« Fast grinste sie. »Dreher schirmt mich ab, er passt auf mich auf. Wie sah ich eigentlich aus, als ich da in der Toilette lag?« Mann überlegte. »Wie eine schöne Frau mit dem Blut von Toten auf dem ganzen Körper. Erschreckend. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, was Sie trugen. Kleid oder Hose, ich weiß es nicht.« »Es war ein kurzes Kostüm mit weitem Ausschnitt. Im Krankenhaus haben sie es mir ausgezogen und ich habe ihnen gesagt, sie sollen es wegschmeißen.« »Wie ich sehe, haben Sie ein Mittel für die Nacht. Ich muss jetzt gehen, ich merke, dass ich müde werde.« Trotzdem blieb Mann sitzen. »Sie glauben mir nicht, nicht wahr?« »Nein, ich glaube Ihnen nicht.« »Und warum? Ich meine, benehme ich mich irgendwie falsch? Oder geheimnisvoll?« »Nein, das ist es nicht. Sie sind eine erfahrene Geliebte. Und solche Frauen bewegen sich immer vorsichtig durchs Leben. Ich nehme an, dass dieser Dreher ein Mann ist, bei dem man sich sehr, sehr vorsichtig bewegen muss. Nein, das ist es nicht. Sie sind eine kluge Frau und Sie wissen, was auf diese Stadt nach dieser Bombe zukommen wird. Mit wem auch immer Sie sich treffen wollten, es wäre ein Leichtes, mir zu sagen: Er heißt Sowieso, er ist Rechtsanwalt und er wohnt in Sowieso. Dann treffe ich ihn für die Dauer von dreißig Sekunden, er bestätigt das und over. Und weil Sie das genau wissen, ist Ihr Verhalten idiotisch.« Sie nickte und presste die Lippen zusammen, als gäbe sie ihm Recht, aber sie sagte nichts. »Dann verschwinde ich jetzt.« Er stand auf. Er entnahm seiner Geldbörse eine Karte und reichte sie ihr. »Ich werde noch ein, zwei Tage mit den Protokollen zu tun haben. Wenn Sie es sich anders überlegen sollten, rufen Sie mich an. Wenn Sie nicht mich anrufen wollen, wenden Sie sich an Kriminalrat Erich Ziemann. Er ist ein netter alter Herr mit viel Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Seele. Glaube ich jedenfalls.« Er nahm ihr die Karte nochmal ab. »Ich schreibe Ihnen seinen Namen auf die Rückseite. Da steht meine private Adresse, Sie können mich abends oder am Wochenende zu Hause erreichen. Würden Sie mir ein Taxi bestellen?« »Natürlich.« Sie wählte schnell und ohne nachzudenken eine Nummer. »Stralauer 13«, sagte sie knapp und Mann dachte, sie fährt oft Taxi, sie spart nicht am Fahrpreis. »Was werden Sie denn in diesem Protokoll über mich berichten? Dass ein Rasierpinsel in meinem Bad steht?« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mann, dass sie kokettieren wollte, aber dann erkannte er in ihren Augen bitteren Ernst. Sie weiß etwas, dachte er, sie weiß etwas ganz Entscheidendes. »Ich möchte wissen, vor wem oder was Sie Angst haben«, sagte er. »Und ich werde schreiben müssen, dass Sie den Namen Ihres geheimnisvollen Freundes nicht verraten wollen.« Er grinste. »Sie sind wie mein Schützling Kemal, der in einer Nacht achtunddreißig Autos mit einem Hammer öffnete, nichts klaute und behauptete, er sei dazu gezwungen worden. Wahrscheinlich haben Sie Angst, dass dieser Dreher erfährt, mit wem Sie sich treffen wollten.« »Nicht die Spur!«, entgegnete sie sofort. »Nun gut. Ich bin Staatsanwalt, mit mir spielt man keine Spielchen. Also danke ich Ihnen nicht für Ihre Offenheit, aber ich danke, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Er drehte sich um und ging durch den kleinen Flur auf die Wohnungstür zu. »Darf ich eine Frage stellen?«, rief sie hinter ihm her. »Nur zu«, sagte er, seinen Schritt verlangsamend. »Wen wollten Sie im Francucci’s treffen?« »Einen Mann namens Walter Sirtel. Kennen Sie ihn?« »Selbstverständlich«, antwortete sie. »Der turnte dauernd in meinem Büro herum. Erstellte rechtliche Gutachten für uns. Der gehörte sozusagen zur Familie.« Mann drehte sich schnell zu ihr um. »Und? Haben Sie ihn gesehen?« »Ja, klar«, nickte sie. »Aber Sie haben vorhin gesagt, dass Sie keinen der anderen Gäste des Lokals kannten … Haben Sie miteinander gesprochen, haben Sie sich gegrüßt?« »Nein, er hat mich nicht bemerkt. Warum waren Sie mit ihm verabredet?« »Das weiß ich nicht, Sirtel hatte um diese Treffen gebeten. Ohne nähere Angabe von Gründen. Und jetzt gute Nacht, oder besser: guten Morgen.« Er öffnete die Tür und dachte verärgert: Ich muss mit Ziemann über diese Frau reden. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich weiß nicht, welchen. Der Taxifahrer wartete schon. »Grunewald, bitte«, sagte Mann. »Hubertusbader Straße.« Das gelbe zweigeschossige, spitzgieblige Haus aus

den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts wirkte wie immer vollkommen unberührt von den Zeitläufen. Tante Ichen nannte es respektlos: »Stammsitz einer total bekloppten Familie.« Als er vor dem Haus stand, empfand er Scham. Da fahre ich nach so einer gottverdammten Nacht hierher. Als sei das selbstverständlich. Als hätte ich keine eigene Wohnung. Tante Ichen hat das natürlich gewusst. Er kämpfte mit der Versuchung, Katharina anzurufen und ihr irgendeinen Blödsinn zu erklären. Dringende Konferenz, Unklarheiten am Tatort, Besprechung mit dem Bundeskriminalamt. Die große, schwere Eichentür fiel sanft hinter ihm zu und er war zu Hause in der Stille, die er über alles liebte, mit der er aufgewachsen war und die ihm so vertraut war, keine Unklarheiten barg. Er machte kein Licht in der Halle. Aus der Küche drang eine funzelige Helligkeit, über der Anrichte brannte die kleine Lampe. Da stand ein großer weißer Teller mit Melonenscheiben und Schinken. Daneben lag ein Zettel: John hat dir eine Kleinigkeit angerichtet. Dein Zimmer ist gemacht, der Tee steht neben dem Bett. Schlaf erst einmal. T. I. Er zog sich aus, ging unter die Dusche und ließ lauwarmes Wasser über seinen Körper laufen. Dann trank er Tee, den Tante Ichen aus zahllosen Kräutern selbst zusammenmischte und von dem sie behauptete, er bringe alles in Ordnung, Ruhe für den Körper und, natürlich, für den Geist. Aber der Tee wirkte nicht, Mann fiel in einen unruhigen Schlaf, sah immer wieder die deformierten Köpfe der beiden Jungen, die zerrissenen Leiber der Menschen, das geisterhaft bleiche Gesicht von Marion Westernhage auf den weißen Bodenfliesen in der Toilette. Er schreckte hoch und starrte aus den Fenstern, sah den Tag kommen, hörte den Gesang der Vögel. Mann versuchte gar nicht mehr, noch einmal einzuschlafen. Als es neun Uhr war, rief er Ziemann an. »Ich war heute Nacht tatsächlich noch bei der Westernhage. Ich habe das Gefühl, sie war nicht zufällig im Francucci’s. Ich meine, sie kannte diesen Sirtel sehr gut, der arbeitete für diese Bankgesellschaft. Sie selbst sitzt im Vorzimmer des Vorstands.« »Hast du den Eindruck, sie war in dem Laden, weil auch Sirtel dort war?«

»Ja, möglicherweise. Gleichzeitig klingt das irgendwie irrsinnig.«
»Das ist überhaupt nicht irrsinnig«, sagte Ziemann sanft. »Das könnte durchaus eine Spur sein. Können wir uns treffen? Hackesche Höfe um elf, in zwei Stunden also. Dort befindet sich im zweiten Durchgang ein kleines Café.«
»Ich habe die Protokolle noch nicht fertig.«
»Die brauchen wir nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Also, bis später.«
Mann duschte wieder, weil er noch immer das Gefühl hatte, schmutzig zu sein. Im Kleiderschrank fand er Unterwäsche, Hemden, eine Jeans und eine alte Lederjacke. Tante Ichen sorgte dafür, dass er jederzeit von einer Minute zur anderen in diesem Haus wohnen konnte. Ein wenig ärgerte ihn diese Erkenntnis.
Es klopfte behutsam, und als Mann »Ja« sagte, stand John auf der Schwelle. Auf ihn traf der wunderbare Satz von Raymond Chandler zu, der einmal in einem Brief geschrieben hatte: Ich bin ein kleiner Mann und mein Haar wird schnell grau. Wie alt John war, wusste niemand so ganz genau. Mann schätzte ihn auf fünfundsiebzig, während Tante Ichen behauptete, er müsse über achtzig sein. Der Familiensage nach hatte Tante Ichen ihn irgendwo in Ostfriesland aufgegriffen, als sie eine Panne mit dem Auto hatte. Seitdem diente er ihr mit viel Stolz und Würde. Doch ein Butler war er nicht, er hatte das Dienen nie gelernt.

»Guten Morgen, mein Junge. Deine Tante sagt, sie möchte mit dir frühstücken.«
»Ich komme«, sagte Mann. »Ist sie gut drauf?«
»Ihre Königliche Hoheit hat heute Morgen schon gelächelt. Sie ist gesund und munter.«
»Kannst du mich später zu den Hackeschen Höfen fahren?«
John antwortete, was er in solchen Fällen immer antwortete: »Sofern deine Tante nichts anderes plant.« Dann verschwand er wieder.
Mann ging hinunter auf die überdachte Terrasse, die mit ausladenden Korbmöbeln möbliert war. Er sagte: »Guten Morgen!«, und drückte seiner Tante einen Kuss auf die Stirn.
Sie saß kerzengerade und hatte einen Becher mit Pulverkaffee vor sich stehen, der Mann jedes Mal zum Husten zwang. Die kleine, magere Frau mit dem langen schlohweißen Haar trug ein blaues Kleid, bedruckt mit vielen weißen Blumen. Tante Ichens Gesicht wirkte erstaunlich jung und sanft. Im Grunde bildeten sie und John so etwas wie ein ideales Großelternpaar und Mann erinnerte sich, dass er als Kind jahrelang geglaubt hatte, dass sie ein Paar wären. Bis er entdeckt hatte, dass Tante Ichen ein sehr reges, verborgenes Liebesleben führte.
»Ich nehme an, diese Nacht war furchtbar«, sagte sie, während sie ihm einen Kaffee anrührte.
»Das war sie«, antwortete er.
»Ich habe alles aufgenommen, was im Ersten kam. Du kannst es dir angucken, wenn du magst. Du wirkst richtig exquisit. John sagt das auch. Nun iss etwas und berichte, wenn du berichten willst. Ich vermute, du hast nicht viel Zeit.«
»Das ist richtig, obwohl mir im Moment gar nicht klar ist, wo ich hingehöre. Aber Ziemann wird es wissen. Das ist der Kriminalrat, der heute Nacht für den Tatort zuständig war.«
»Deine Katharina hat übrigens angerufen. Seit sechs Uhr heute Morgen sieben Mal. Sie hat eine Stimme wie ein afghanisches Klageweib, schrecklich. Du sollst dich melden, hat sie gesagt. Und sie sei vermutlich schroff zu dir gewesen, hätte das Ganze aber nicht so gemeint. War sie schroff?«
»Na ja«, murmelte Mann. »Sie wusste ja nicht, in welcher Lage ich mich befand. Und ich war auch schroff. Kann John mich zu den Hackeschen Höfen fahren? Gegen halb elf?«
»Aber ja.« Sie setzte maliziös hinzu: »Du bist so wunderbar sanft und angepasst. Erst ist sie schroff, dann bist du schroff und anschließend ist die Welt wieder in Ordnung. Na gut. Ich fahre mit, ich muss sowieso in die Stadt. Eine Menge Amerikaner sind nach Berlin gekommen, genauso wie die Leute aus Israel, alle Sender machen eine Sondersendung nach der anderen und sie reden so viel, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sie gar nichts wissen.«
»Deine wunderbaren Genitive!«, grinste Mann. »Die Amerikaner sind selbstverständlich der Meinung, dass das Reich des Bösen zugeschlagen hat, und …«
»Aber das waren doch Terroristen«, unterbrach sie empört. »Das ist doch wohl selbstverständlich.«